In Bochum schossen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts graue Industrie, Siedlungen, Kneipen und Trinkhallen rund um die Minen ungeplant in die Breite. Über einhundert Jahre später schrieb Herbert Grönemeyer ein Lied über Bochum. Darin heißt es, „tief im Westen, wo die Sonne verstaubt“, [sei] es besser, viel besser, als man glaubt.“
Doch die Sonne Bochums ist nicht mehr staubig. Sie sinkt seit 50 Jahren und der Staub vor ihr verweht. Erst starben die Kohle-Zechen, in denen hunderttausende Arbeiter mit knochenharter Arbeit den Reichtum einiger Weniger gemehrt hatten. Sie schlugen das Grubengold im Austausch gegen eine kleine Wohnung, einen satten Bauch und wenig Konsum. Die letzte Grube schloss 1973. Energieträger und Arbeitskraft waren anderswo auf der Welt billiger zu haben. Keiner der großen Streiks hat den Untergang des Bergbaus aufhalten können. Die Idee eines Streiks ist es, einen Unternehmer durch Arbeitsverweigerung zu Zugeständnissen zu bewegen, weil der Unternehmer an der Aufrechterhaltung der Arbeit interessiert ist. Kein Streik kann einen Unternehmer dazu bewegen, die Arbeit aufrecht zu erhalten, wenn der ihre Niederlegung wünscht. Der Staub vor Bochums Sonne dünnte sich aus.
Nach den Gruben schlossen die Stahlwerke. Wenn Energie und Arbeitskräfte für Kohle und Koks woanders billiger waren, dann war es auch billiger, den energiehungrigen Stahl gleich dort zu produzieren. In den 60zigern schloss Siemens-Martin. Die Blockwalzstraße baute Arbeitsplätze ab. Das Hammerwerk wurde stillgelegt. Mit Beginn der 70ziger Jahre waren kaum noch 5000 Menschen in der Stahlindustrie beschäftigt. Gerade noch 137 Menschen malochten im Jahre 2011 in den Stahlwerken Bochum. Bochums Sonne strahlte immer heller.
Autos werden aus jeder Menge Stahl gemacht. Doch es stecken vor allem auch Ideenreichtum, hohes technisches Geschick und viel Präzision in ihnen. Während die Gruben starben und die Schwerindustrie nachfolgte, begann Opel in Bochum in einem neuen Werk den Kadett zu produzieren. Bochums neues Werk durchlebte Höhen und Tiefen, aber seine Erzeugnisse hielt man lange Zeit für „deutsche Qualitätsprodukte“, deren Fertigung man nicht so einfach ins Ausland verlagern könnte. In Spitzenzeiten liefen jährlich eine viertel Million Fahrzeuge vom Band. Noch war da etwas industrieller Staub vor Bochums roter Sonne.
Im Jahre 2011 beschäftigte das Werk nur noch 5170 Menschen. Bis zum Jahre 2016 werden dort 3000 Menschen weniger ihr Auskommen haben. In Bochum sollen die Tüftler und Denker die Blaupausen schaffen für die Produktion von General Motors. Arbeiterhände werden nicht mehr gebraucht. Irgendwann wird man auch die Tüftler nach Hause schicken.
Unter Bochums klarer Sonne versammelten sich am 3. März 2013 zwanzigtausend Menschen, um gegen die Aufgabe der Fahrzeugproduktion zu demonstrieren. Herbert Grönemeyer lies sich nicht blicken. Kinder malten berührende Bilder. Gewerkschaftler redeten Reden. Die Linke forderte Beschäftigungsgarantien über 2016 hinaus. Kleinunternehmer verkauften Bockwürste und Damenwäsche. Es wird alles Nichts nutzen.
Die Idee von Streiks und Demonstrationen ist es, die Macht der Wenigen über die Vielen zu biegen und bisweilen auch zu brechen. Das kann aber nur gelingen, wenn die Wenigen auch vom Wohlwollen der Vielen abhängig sind. Wenn ein Unternehmen einen „Standort“ aufgeben will, erlischt diese Abhängigkeit. Seit man in Bochum die Gruben zuschüttete, die immer noch Kohle bargen, ist es niemals gelungen, die Mächtigen durch Streiks oder Demonstrationen zu einem humanen Gebrauch der Macht zu bewegen, wenn die sich zum Gehen wandten und ihre Macht mitnahmen.
Wenn sich Opels Werk in Bochum nicht mehr rechnet, dann bedeutet das nur, dass es sich vor den Interessen von Aktionären nicht rechnet. Wenn anderswo auf der Welt die Ware „Arbeitskraft“ billiger ist, dann liegt das nur daran, dass die von Gewerkschaften erstrittene Teilhabe dort weniger weit vorangekommen ist als in Bochum. Solange irgendwo auf der Welt noch eine Mine, ein Stahlwerk oder ein Fließband steht, an dem bei gleicher Qualität mehr Ausbeutung möglich ist, werden an irgend einem anderen Ort der Welt Kinder Bilder malen, auf denen sie sich wünschen, ihre Eltern mögen nicht arbeitslos werden.
Niemand von uns ist arbeitslos. Ganz im Gegenteil. Es gibt jede Menge Arbeit zu tun. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht länger das Interesse der Aktionäre und der Grad der Ausbeutung die Standortfrage bestimmt – sondern das Interesse der Menschen an diesem Standort und an einem humanen Leben. Es ist ein Weg denkbar, um dieses Ziel zu erreichen. Statt für den wohlwollenden Gebrauch der Macht durch die Wenigen zu demonstrieren, müssen die Vielen die Macht ergreifen. Das ist die wirtschaftliche Macht. Das ist das schlichte Eigentum am Bochumer Opel-Werk und die damit verbundenen knallharte Berechtigung, nicht länger Aktionäre glücklich zu machen, sondern die Menschen, die mit ihrer Arbeit Werte schaffen.
Doch was in vielen Ländern Lateinamerikas längst eine Normalität wird, kommt in der politisch verträumten Bundesrepublik immer noch wie ein Hirngespenst daher: die Übernahme wirtschaftlich schwächelnder Unternehmen durch die Arbeiterschaft. Dabei könnte es tief im Westen tatsächlich einmal besser sein, „viel besser, als man glaubt.“
09.02.2014 // Sehr nachdenklicher Nachtrag: Nach den Rückmeldungen über Twitter und Facebook zu diesem Artikel möchte ich etwas hinzufügen. Zu kämpfen – hat durchaus einen Wert an sich, denke ich. Denke ich jetzt. In meinem Text fehlt also etwas von Anfang an. Ich möchte das Fehlende ergänzen: Respekt!