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Wieso?

Gestern las ich auf Facebook von einem müden Mann. Vielleicht war es auch nur ein müdes Statement von einem wachen Mann. Mein Facebookfreund sah die Streikmeldungen aus Griechenland und klickte routiniert den Like-Button , um sich dann zu fragen, ob er wirklich mag, was er da likte. Was soll das bringen? Ein Streik folgt auf den nächsten und die Realität bleibt wie sie ist. Dabei müsste sie sich dringend mal ändern.

Er ist einer dieser Facebookfreunde, die man nur im Netz hat und in der Realität nie traf. Was weiß ich überhaupt von ihm? Älter ist er als ich. 30 Jahre stellt er die Welt politisch in Frage. Seine Postings sind sehr reflektiert. Sie sind auch nicht selten emotional. Er scheint ein Mensch zu sein, der das Unrecht auf der Welt persönlich nimmt. Wie ich. Mehr weiß ich nicht. Ich reime mir den Rest zusammen. Ich sehe ihn auf Demonstrationen gegen den DDR – Kapitalismus. Vielleicht war er auch auf der anderen Seite und hat Castoren gestoppt. Ich sehe ihn älter werden aber nicht ruhiger. Klüger aber nicht pragmatischer. Pragmatismus ist trojanisches Pferd. Er dringt als Geschenk der Ruhe in die Seele ein und hinterlässt nur Zerstörung. Er macht die Wütenden traurig und die Klugen verwirrt er.

Der Junge auf dem Bild ist nicht pragmatisch. Er ist müde. Er mag nicht mehr trommeln. Das Foto entstand am Ende einer Demonstration in Buenos Aires im Dezember 2012 zwischen dem Ministerium für Landwirtschaft und dem argentinische Bundesparlament. Dort demonstrierten die indigenen Bauern der Region Santiago del Estero gegen eine Änderung des Saatgutgesetzes, die Monsanto und Co zu mehr Macht verholfen hätten. Das Gesetz wurde vorerst gestoppt. Ein winziger Schritt war das. In der Geschichte ist er so klein, dass man ihn in allen Lehrbüchern der Zukunft vergeblich suchen wird. Die indigenen Gemeinschaften des Landes kämpfen schon so lange und oft auch ohne Erfolg. Erst waren sie das Schlachtvieh der spanischen Eroberer. Dann wurden sie zu Sklaven des argentinischen Landadels. Als die Verbürgerlichung des Landes voran kam, blieben sie die Ärmsten der Armen. In der argentinischen Militärdikatur aber holten sie Luft. Fernab von den Verschleppungen und den Foltergefängnissen, hoch im Norden in einer Region ohne Straßen, Strom oder fließendes Wasser herrschte immer noch wilder Westen. Doch jetzt schienen die „Indianer“ endlich einmal zu gewinnen. Hunderte von Jahren hatten sie auf den Knien gelebt, jetzt halfen sie anderen auf die Füße. Aus dem ganzen Land kamen die bewaffneten Kämpfer gegen die Militärjunta nach Santiago del Estero in das Buschland des Monte. Niemand suchte sie hier. Niemand würde sie hier finden. Sie suchten Schutz und sie brachten das Wissen, das sie tauschten gegen das Wissen der alten Kultur.

Die Diktatur endete. Der Neoliberalismus kam, weil man ihn mit der Demokratie verwechselte. Neues genmodifiziertes Saatgut und chemischer Dünger traten in die Welt. Deren Märkte gierten nach Soja. Die kargen Böden der Region Santiago del Estero wurden zum Investitionsgut. Doch die indigenen Campesinos verteidigten ihr Land. Sie organisierten sich. Sie gaben ihrer Kommunikation mit fünf eigenen Radiostationen eine Grundlage. Wird Land abgezäunt, erfahren es alle und kommen zusammen und reißen die Zäune nieder. Wird jemand bedroht, versammeln sie sich, um die Bedrohung zurückzuschlagen. Sie haben keine Waffen. Sie wollen keine Waffen. Das ist ihre Waffe. Sie haben die wachsende Sympathie der argentinischen Gesellschaft. Sie haben jeden Quadratmeter zurückerobert.

Sie vernetzen sich mit ländlichen und urbanen Gruppen – und das weltweit. Der letzte große Kongress der Campesinos wurde in Mosambik abgehalten. Bis nach Rom bestehen enge Verbindungen zu der dort gegründeten Slowfood-Bewegung. Die Campesinos errichteten im Monte Schulen, Fachhochschulen und sie werden im April 2013 eine eigenen Universität eröffnen. Überall im Land sieht man neue Brunnen und blinkende Solarzellen. Es war eine lange Reise. Der Erfolg dauerte länger als ein einzelnes Menschenleben reicht. Wie oft in hunderten von Jahren mögen sie gedacht haben, dass ihr Kampf sinnlos ist?

Der Junge auf dem Bild ist müde. Er ist vielleicht auch deshalb so müde, weil er noch sehr klein ist. Die Demonstration im Regierungsviertel der Hauptstadt war vermutlich zugleich sein erster Aufenthalt dort. Eintausend Kilometer südlich vom Monte. Die Alten werden ihm erzählt haben von der riesigen Stadt. Aber es ist anders, sie das erste Mal selbst zu sehen. Doch auch die Alten werden gestaunt haben. Denn zum ersten Mal waren sie dort im Regierungsviertel nicht mehr allein unter sich. Unzählige politische Gruppen aus dem urbanen Raum waren dort bei ihnen. Im Menschenmeer schwenkte man dicht an dicht die Fahnen der Ökologie, des Marxismus, der Humanität und der Christlichkeit. Ich glaube nicht, dass man sich über alles einig war. Ganz sicher nicht. Aber es waren alle da. Und über etwas Entscheidendes waren sie sich einig: Die Landfrage, sagte man dort, ist keine Frage des ländlichen Nordens. Sie ist eine Frage, die ganz Argentinien angeht und alle seine Städte.

Vielleicht darf man annehmen, dass diese Bündnisse aus Land und Stadt nicht lange überleben werden. Pragmatismus ist trojanisches Pferd. Er dringt als Geschenk der Ruhe in die Seele ein und hinterlässt nur Zerstörung. Er macht die Wütenden traurig und die Klugen verwirrt er.