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Eisbär

Wenn die Besucher*innen eines zoologischen Gartens oder Tierparks auch Amateurfotograf*innen sind und ihre Kameras dabei haben, dann fotografieren sie oft die Tiere gerne so, als gäbe es keine Zäune und Gitter. Sie pressen die Objektive der Kameras so nah an die Absperrungen, dass das Metall von der fehlenden Tiefenschärfe verschluckt wird oder suchen einen Winkel für das Framing des Bildes, bei dem die Gitter unsichtbar bleiben.

Diese Fotografien ähneln den Fotografien, die wir Menschen von uns und unseren Lebensumständen machen und in sozialen Netzwerken verbreiten. Sie erzählen von tollem Essen, schönen Stränden, dem neuen Auto, sexy Klamotten oder dem Blick vom Balkon der neuen Wohnung ins frische Grün hinab. Was da fast nie halbwegs ausreichend erzählt wird, ist Traurigkeit, Müdigkeit, Sorgen, Wut oder Verzweiflung, obwohl all das in den Leben der meisten Menschen die inhärenten Tatsachen sind, die zeitlich weit stärker wiegen als die vierzehn Tage Strand-Urlaub oder der eine kurze Tag des Neuwagenkauf.

Der allgegenwärtige Wettbewerb um den erfolgreichsten Lebensentwurf verleitet zur fast allgegenwärtigen Lüge: „Mir geht es gut. Ich erlebe gute Dinge. Ich mache sicher Vieles richtig.“ Es ist eine geschickte und unschuldige Lüge. Denn das Bild vom schönen Sonnenuntergang am Strand entsteht in einem Gefühl der Wahrheit. Das Bild von der roten Sonne über dem bleiblauen Meer erzählt von der Freude über die Natur in einem Augenblick, von Erholung, Spaß und Entspannung. Wie könnte dieses Bild überhaupt unaufrichtig sein? Aber es ist unaufrichtig. Das Bild ist unvollständig. Es erzählt von ein paar Tagen selbstbestimmten Lebens, die der Reproduktion dienen, in völliger zeitlicher Schieflage zu vielen Wochen und Monaten, in denen meist stupide bis mäßig befriedigende Lohnarbeit verrichtet wird für fremde Interessen und fremden Reichtum – zu deren Geschichten und Verlauf  die meisten Fotografien fehlen.

Das Bild vom neuen Auto erzählt: „Ich habe mir einen kleinen Traum erfüllt. Ich konnte mir etwas Schönes leisten. Mir geht es ganz gut.“ Doch es fehlen die Bilder von all den stumpfsinnigen Tagen, an denen der Arbeitende sich krummgelegt hat – ohne echtes inhaltliches Interesse oder gar Begeisterung für den Job, der zu tun war, um sich das Fitzelchen „Gutfühlen“ abzuquetschen.

Wo ist das Selbstbild vom müden Mann in der S-Bahn, der zur Arbeit fährt? Wo ist das Bild von der Frau, die an der Telefonhotline gezwungen lächelt, weil sie in Schulungen gelernt hat, dass das ein besseres Klangbild ergibt? Wo ist das Selfie von der übermüdeten Ärztin im Praktikum? Wo sind all die Bilder, die unser wahres Leben zeigen?

Wir glauben, wir fotografieren nun einmal das Besondere und das seit gut so. Doch das ist es nicht. Das Besondere sind wir und unser ganzes Leben. Wir verhalten uns wie Gefängnisinsassen, die in ihren Briefen nach Hause lediglich von Freigängen im Hof berichten.

Wir fotografieren unser wahres Leben nicht, weil dessen Bilder uns zu Verlierer*innen stempeln würden. Es wären gleichsam Bilder von Zäunen und Gittern. Sie würden berichten von dem völlig unfairen, hohen Preis, den wir zahlen für unser bisschen Glück. Aber es wäre ein Anfang. Würden wir unser Leben fotografieren statt dessen Anspruch, dann würden wir in sozialen Netzwerken miteinander tatsächlich über das Wesentliche zu kommunizieren beginnen. Wir könnten herausfinden, wie wir eigentlich wirklich leben und wie wir eigentlich wirklich leben wollen.

Der gelbschmutzige Eisbär auf dem Bild schwamm ständig gegen das Gitter an, das ihn von der Freiheit trennte.