Dieses Bild entstand irgendwann im Frühjahr 1992. Lois Hendrickson und ich waren auf einer seltsamen Reise durch die USA von Sacramento nach Washington (D.C).
In Sacramento gab Schwieriges zu erledigen. In D.C. waren wir zuhause. Für die Hinreise nahmen wir das Flugzeug. Doch was in Sacramento geschah, war zu schwer verdaulich, um danach einfach so nach Hause zu fliegen. Wir sagten den Rückflug ab. Ich schwänzte die Schule. Sie mietete einen Wagen. Der lange Weg schuf Zeit und Gespräche, förderte Erinnerungen zu Tage und ermöglichte das Verdauen des Erlebten.
Fast drei Wochen fuhren wir über Umwege quer durch das Land. Mit einer alten Nikon Nikomat dokumentierte ich unsere Reise. Ich verschoss unzählige Rollen, beschriftete sie und verstaute die Filme in Zipperbags im Eis einer wasserdichten Frühstücktasche. Ich knipste. Ich fotografierte nicht. Die Kamera schuf Distanz zwischen der Welt und meinem Kopf. Sie objektivierte das Geschehen. Sie gab mir Kraft, wenn ich mich schwach fühlte.
Irgendwo im Südwesten hielten wir in einem Dorf der Mennoniten, um gutes Brot zu kaufen. Zur Linken des Eingangs der Bäckerei standen zwei Kinder, die einem früheren Jahrhundert entrückt schienen. Ich lächelte sie an, betrat die Bäckerei und fragte die Bäckerin auf Deutsch, ob die beiden ihre Kinder seien und ob ich ein Foto machen dürfte. Das sei doch die Entscheidung der Kinder, meinte sie. Ich kaufte Brot, ging nach draußen und log die Kinder an.
Menoniten leben fernab von der modernen Technik das Leben der deutschstämmigen Einwanderer des 19. Jahrhunderts. Ich weiß nicht, ob die Kinder je eine Kamera gesehen hatten. Ihr Dorf lag fernab vom Highway. Ich sagte den Kindern, ihre Mutter hätte mir erlaubt, sie zu fotografieren. Sie standen regungslos. Ich hob meine Nikomat an das Auge und belichtete kurz hintereinander zwei Frames eines billigen ISO 200 Farbfilmes des Firma „Price Club“.
Später, längst wieder daheim in D.C., blätterte ich durch einen großen Haufen von industriell entwickelten Farbbildern. Vieles war blasser als die Reise in meiner Erinnerung. Dann hielt ich die zwei Bilder der Kinder in den Händen. Sie waren so ganz anders. Aus einem der beiden Bilder schienen die Beiden fast dem Papier zu entspringen und in die Wirklichkeit zu treten.
Doch etwas fehlte noch. Etwas, von dem ich nicht wusste, was es war. Ich nahm das Farbnegativ in die Dunkelkammer mit und belichtete es auf Schwarzweißpapier. Ich wechselte die Filter, entschied mich endlich für einen Rotfilter, änderte immer wieder die Blende des Belichters, spielte lange mit den Schaltzeiten, verbrachte Stunden unter Rotlicht, bis ich einen Abzug erhielt, mit dem ich endlich zufrieden war: Die Gesichter der Kinder waren scharf kontrastiert und ihre Blicke gaben eine seltsame Mischung aus Angst und Neugier ab. Nichts von dem hatte ich bemerkt, als ich das Foto geknipst hatte. Das Bild war ein zufälliges Bild. Seinen Wert hatte ich erst in der Dunkelkammer gesehen. Das veränderte mein Denken. Ich wollte nicht mehr knipsen. Ich wollte lernen, zu sehen, was ich fotografierte. Ich wollte, dass das Sehen und das Fotografieren identisch werden. Bis heute habe ich das nicht geschafft. Aber das Bild der Kinder gab mir ein Ziel.
Beide sind vermutlich heute selbst schon Eltern und haben Kinder. Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute für ihre Leben und bedanke mich bei Ihnen für das Bild, das ich mir erschwindelte. Es hat mein Leben zum Guten verändert.