Unsere winzige Tochter liegt auf meinem Schoß und träumt. Es ist morgens. Über die Nacht hat Maira eine Wimper verloren. Die erste von vielleicht hunderttausenden in ihrem Leben, die sie noch verlieren wird. Ich greife nach der Nikon´und schalte das Kameraobjektiv in den Makrobereich. Der Verschluss klackt trocken.
Eine Geschichte verlorener Wimpern stürmt mir durch den Kopf. Maira auf einem Kindergeburtstag. Die Kerzen auf ihrem Kuchen im Wohnzimmer brennen noch. Ihre kleinen Gäste warten. Wir stehen im Bad und untersuchen ihr Auge. „Die Wimper ist längst heraus“, sage ich, „das ist nur die Irritation.“ und sie will wissen, was „Irritation“ bedeutet. Eine größere Maira malt ein Bild mit Fingerfarben. Die Wimpel stört und sie reibt sich ein zweites Bild unter das Auge. Maira mit Wimpern an den Fingern, die sie fortbläst. Maira, die zu jeder neuen Wimper einen Wunsch hat und ihn nicht verraten darf. Sonst kann der Wunsch auf der Wimper nicht fliegen. Maira nach dem Weinen. Maira mit Wimperntränen aus Lachen und Lachen und Lachen. Maira, die einen Jungen küsst. Sie dreht sich weg und er fragt sie, was los ist. „Es ist nur“, lacht sie, „ich habe eine blöde Wimper im Auge.“ Maira, die ein Gewehr anlegt und nicht zielen kann. Ihr Auge tränt. Es ist die Wimper. Maira steuert ein Auto durch eine regennasse Nacht. Hinter schlecht arbeitenden Scheibenwischer reibt sie ein Auge. Verdammte Wimper. Maira vor einem flimmernden Monitor. Ihre Hände fliegen über die Tastatur. Sie hält das nervige Wimpernauge halb geschlossen und unternimmt nichts. Sie muss weiterschreiben. Sie will nicht unterbrechen. Es ist zu wichtig und der Gedanke in ihrem Kopf ist scheu. Es ist ja nur eine Wimper.
Nur ein Wimper. Ich nehme sie vorsichtig aus ihrem kleinen Gesicht und blase sie fort. Es ist fast zehn Uhr. Im Zimmer ist es leise und es ist januardunkel. Ich wünsche Maira ihren allerersten Wunsch.