Essen muss der Mensch. Wohnen auch. Kleidung wird gebraucht. Auch Urlaub wäre schön. Doch wer bei sich zu Hause keine Produktionsmittel unter dem Bett entdeckt, kann keine Werte schaffen und tauschen. Nicht einmal das Bett fällt vom Himmel. Wer konsumieren will, muss produzieren und benutzt dafür meist die kapitalistischen Produktionsmittel. Dafür wird dann Lohn gezahlt und nicht der Gegenwert der Leistung. Die Differenz ist der Profit. Sein Spiegelbild ist die Ausbeutung. Sein Zerrbild die Entfremdung. Denn Lohnarbeit enteignet den Menschen nicht nur, sie stiehlt ihm obendrein die Seele. Wer acht Stunden täglich in einer PR-Agentur Werbebotschaften textet, kommt abends vor dem Fernseher kaum noch zum Gedichteschreiben. Wer ein halbes Leben lang Schweinehälften in Wurst verwandelt, entdeckt seine Bestimmung zum Naturfotografen bestenfalls spät in der Rente. Am Tage bei zugezogenen Fenstern träumt die Hure allein im Bett, sie wäre in einem anderen Leben Astronautin.
Ein einziges langes Leben malocht die LohnarbeiterInnenschaft für fremde Ziele, fremde Wünsche, fremde Träume, fremde Sehnsüchte und fremde Entfaltung. Die eigene Entfaltung muss zurückstehen. Lohnarbeit ist Triebunterdrückung. Weil der Mensch leben will, muss er den Menschen in sich am Leben hindern. Mensch muss sich zurückhalten, muss den Unwillen herunterschlucken, muss sich beugen und fügen für das, was die Lohntüte ermöglicht. Sie ermöglicht das Überleben und ein wenig Genuss. Doch mit dem Konsum beginnt das Schlimmste erst. Konsum ist Triebentfaltung. Der verkaufsoffene Sonntag verwandelt uns in unsere ursprüngliche Form. Durch das Shoppingcenter ziehen wir in Horden aus Jägern und Sammler. Diesen Fernseher schieß ich mir. Dieses Kleid habe ich mir gesammelt. Nun endlich richtet sich unser Handeln auf die eigenen Wünsche. Doch die triebursprüngliche Freude hat eine bösen Haken. Sie speist sich aus der kleinen Lohntüte und endet jäh, wenn diese erschöpft ist. Eine neue Triebentfaltung verlangt nach neuer Lohnarbeit. Lohnarbeit ist neue Triebunterdrückung. So macht Triebentfaltung die Triebunterdrückung erforderlich und die Triebunterdrückung bedarf neuer Triebentfaltung. Wir arbeiten, um zu shoppen. Und wir shoppen, um weiter arbeiten zu können. Für Revolution bleibt keine Zeit, kein Gefühl, keine Sehnsucht und kein Verstand. Das ist gut für den Kapitalismus. Er benötigt ProduzentInnen und KonsumentInnen, keine RevolutionärInnen.
Diese Reduktion des Humanen ist zugleich die Grundlage und die Grenze der Entfaltung von menschlicher Individualität in unserer Zeit. Schon der Philosoph Herbert Marcuse sah und litt sie. Doch er lebte überdies im Zeitalter des sexuell verklemmten Kapitalismus. Er sah etwas Hoffnung. Er vermutete, dass die allgegenwärtige Prüderie eine notwendige Vorbedingung für die geordnete Triebentfaltung beim Konsum war. Vielleicht gab es also einen Ausweg. Stark verkürzt mündete er in einen Rat. „Leute“, sagte Marcuse: Hört doch auf unter euren Betten herumzukriechen. Da findet ihr keine Produktionsmittel. Kriecht doch lieber in eure Betten und fickt euch! Fickt euch häufig und fickt euch intensiv. Entdeckt dabei, wie reich angelegt euer Sensorium ist. Findet heraus, wie viel Leidenschaft und Lust in euch steckt. Dann könnt ihr vielleicht auch bemerken, wo sonst überall euren Trieben Grenzen gesetzt sind. Es sind diese Grenzen, die ihr nicht wollen könnt und die ihr bekämpfen müsst. Ihr seid keine seelisch amputierten Gefangenen des Kreislaufes aus Produktion und Konsumption. Ihr könntet frei sein! Haut endlich mit der Faust auf den Tisch und fühlt wie gut das tut, wenn der Schmerz den Unterarm hochkriecht. Hört auf zu shoppen. Schreit! Revoltiert!
Ja, na gut. Er hat es natürlich wissenschaftlicher gesagt und ein „bisschen schwangerer“ an Bedeutung. Er nahm an, auch in der sexuellen Triebentfaltung schlummere ein Ansatz, um die menschlichen Triebe insgesamt zu de-entfremden, um dem Teufelskreislauf aus Konsum und Lohnarbeit zu entfliehen. Mit seinem „Unter-Ich“ bewaffnet könnte Mensch dem „Über-Ich“ aus Staat und Gesellschaft den Kampf ansagen, um endlich zu einem erwachsenen und autonom gefundenen „Ich“ zu finden. Die Hoffnung des Psychomarxisten: Durch das Bett verlief ein Fluchtweg aus dem Kapitalismus in das Reich der Schmetterlinge.
Doch Marcuse hat sich geirrt. Entlang des Fluchtweges hat der Kapitalismus nach den 68ern ganz einfach eine neue Einkaufsstraße errichtet. Die neue Freizügigkeit teilt das Schicksal des Rock ’n’ Roll. Was einst das wilde Aufbegehren gegen die Verhältnisse war, ist heute ihre seichte Bejahung. Heute gibt es Ozzy Osbourne bei Kaisers an der Kasse und Mutti zieht den Minirock zur Arbeit an. Der S-Bahnsteig ist ein Laufsteg. Eine Geigerin muss Titten haben. Ein Kopfarbeiter ohne Muskeln ist ein Waschlappen. Eine Frau ohne Dildo ist verklemmt. Statt zur Demo geht der freie Geist in den Swingerclub. Internetportale vermitteln den diskreten Seitensprung. Ich kann meinen abspritzenden Schwanz zur Persönlichkeit erklären; Tausende klicken „gefällt mir“ für sein Video im Internet. Die sexuelle Einkaufsstraße des Kapitalismus hat eine Schneise durch unsere onanierenden und vögelnden Köpfe gezogen. Wir konsumieren die geschärften und übersättigten Bilder einer gefälschten Sexualität und wir leben sie kritiklos. Niemand will prüde sein. Ficken ist links. Sex ist Leistung. Sex ist Erfolg. Sex ist Bereicherung. Sex macht individuell. Fick mich jetzt und liebe mich später. Wie fickst Du? Sag mir, wen Du fickst und ich sage Dir, wer du bist!“
Sex sure sells. But it does not revolt at all. Was der Konsum materieller Güter zuvor allein vermochte, erreicht er nun in Ergänzung mit der Kommerzialisierung der Sexualität. Nun bindet uns die „befreite Sexualität“ an die gefesselten Triebe, der wir für unsere Funktion in der kapitalistischen Produktion bedürfen. Wir shoppen nicht mehr, um zu arbeiten. Wir shoppen und wir ficken für genau denselben Zweck. Die Folge der kommerzialisierten Sexualität ist nicht allein eine Stabilisierung des Kapitalismus. Die Folge ist auch die weitere Entfremdung des Menschen als gesellschaftliches Wesen von sich selbst. Denn wir haben längst begonnen, die Schwänze und Mösen unserer Mitmenschen wie Kühlschränke und Radios zu kaufen. Wir ficken Produkte. Und wir ficken uns ins Knie, weil wir uns zu Produkten machen. Die Lebensplanung von Millionen verläuft sich über Disko, Fitnessstudio, Solarium und zweiundvierzig LebensabschnittpartnerInnen im humanen Nichts. Sex ist auch keine Lösung.